Konzertkultur: Ein Manifest

Wie kann Sinnstiftung in der heutigen Welt durch Musik geschaffen werden? Welche gesellschaftlichen und künstlerischen Funktionen können Musik-Organisationen haben, wenn sich ihre ursprünglichen Daseinsgrundlagen durch technologische und gesellschaftliche Veränderungen radikal verschoben haben? Was ist das Besondere an der Kunstform Konzert und wie lässt sie sich darstellen?

Zunächst stellt sich die notwendige und allzu oft unbeantwortete Frage, ob man sich als Institution nun im Bereich der »Kunst« oder der »Kultur« sieht. Die Begriffe werden häufig synonym verwendet, es gibt aber entscheidende - wenn auch meist nicht trennscharfe - Unterschiede im Selbstverständnis und in den notwendigen Strukturen, die sich daraus ableiten. Bei der Kultur geht es vielmehr um eine Rückversicherung darüber, in welcher Kultur wir leben, sie repräsentiert unser kulturelles Erbe und pflegt dieses. Bei der Kunst hingegen geht es um den lebendigen Ausdruck der Zeit und die Frage, in welcher Gesellschaft wir miteinander leben wollen, sie richtet den Blick also nicht zurück, wie bei der Kulturpflege, sondern nach vorn. Eine Institution, die Musik als Kunst präsentieren will, wird sich daher zeitgenössischer Formen und Inhalte bzw. neuartiger Kontextualisierung klassischer Musik widmen. Sie wird sich nicht mit der bloßen Reproduktion zufriedengeben. Eine Kultureinrichtung wiederum ist für die Repertoire-Pflege, sozusagen den musikalischen Denkmalschutz, da — sie braucht nicht unbedingt das Neue, Riskante, um ihre Rolle zu erfüllen (und ihre Rolle ist durchaus wichtig).

Konzerte als Orte künstlerischer Erfahrung müssen also heute deutlich mehr leisten, als nur zu reproduzieren.

Es erscheint mir, dass mit Musik viel zu viel Kultur und deutlich zu wenig Kunst gemacht wird. Selbst wenn die klassischen Meisterwerke zweifellos "höchste Kunst sind, so werden sie zu oft durch ihre bloße Reproduktion in der routinierten Konzertkultur gewissermaßen entschärfte. Die klassische Musiklandschaft bietet also — überspitzt gesagt - Kunst, die weitgehend, von wenigen interpretatorischen Sternstunden abgesehen, zur Denkmalpflege geworden ist.

Es sollte jedoch darum gehen, die Wirkkraft der Musik zu reaktivieren. Denn das Konzert kann mehr, als sich selbst »bewahren«. In der historischen Rückschau zeigt sich, dass das Konzert sich immer wieder aktualisierte und den jeweils zeitgenössischen Gesellschaften und ihren (Hör-) Bedürfnissen anpasste. Damit drängt sich die Frage auf, unter welchen Bedingungen künstlerische Erlebnisse gelingen.

Dies ist die Leitfrage für eine Organisation, die ein künstlerisches Selbstverständnis vertritt. Wir sind im Zeitalter der totalen Verfügbarkeit von Musik durch Spotify, YouTube und spezialisierter high-end-Dienste. Da bietet die bloße, im Vergleich zur Referenzaufnahme nicht unbedingt berauschende Aufführung in oft akustisch mangelhaften Räumen mit mittelmäßiger Servicequalität kaum mehr einen entscheidenden künstlerischen Erfahrungsmehrwert. Stars und Best-Of-Programme werden vielleicht immer irgendwie für Einige funktionieren, aber es muss künstlerisch wertvollere Möglichkeiten geben, mit Musik Lust, Sinn und Wert zu schaffen.

Konzerte als Orte künstlerischer Erfahrung müssen also heute deutlich mehr leisten, als nur zu reproduzieren.

Es geht darum, aus dem Füllhorn des musikalisch Möglichen sinnvolle und sinnliche Programme zu entwickeln, in künstlerischen Abläufen und Formaten zu denken und ein musikalisches Storytelling zu betreiben, das die Werke kontextualisiert und inszeniert. Musik muss als wirkliche Zeitkunst betrachtet werden, die - sofern sie Kunst sein darf -im Moment neu erlebt werden kann. Ansonsten verbleiben wir »Cover-Bands« des 19. Jahrhunderts, die bis auf die Kleiderordnung eine Zeit repräsentieren, die nicht unsere ist.

Musik jedoch ist immer eine zeitgenössische Angelegenheit: Sie passiert hier und jetzt. Es gibt keine Musik, die nicht im Moment passiert - wenn wir eine Melodie von Bach am Strand summen, so wird sie doch nur in diesem Augenblick wahrhaftig. Das ist die Magie von Musik: Sie ist ihrem Wesen nach momentan, persönlich und immersiv.

Wenn wir Musik also vornehmlich als ästhetisches Phänomen betrachten, dann wird auch das anerzogene Genre-Denken zunehmend hinfällig. Es gibt keine Klassische Musik. Es gibt keine Neue Musik. Auch Pop-Musik gibt es nicht. Es gibt nur Musik, die in Resonanz mit dem Aufführungskontext und dem Publikum ist oder nicht, die gut dargeboten wird oder schlecht oder mittelmäßig. Und es gibt den Geschmack des Kurators, der diese Post-Genre-Welt voller aufregenden Entdeckungen, lebendiger Zusammenhänge und tiefer Abgründe navigieren können sollte.

 

Musik jedoch ist immer eine zeitgenössische Angelegenheit: Sie passiert hier und jetzt.

Oft wird vom Neuen als Ersatz des Bestehenden gesprochen. Das ist eine überholte Vorstellung, die vielleicht damit zu tun hat, dass sie meist von Leuten kommt, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind. Unsere Generation ist gewohnt, dass das künstlerische und kulturelle Ausdrucksrepertoire im Grunde unermesslich ist. Es ist additiv - wie das Internet oder das Universum: Es wächst, es kommt einfach immer mehr dazu; und die Dinge, die es da gibt, können einfach nebeneinander existieren. Manches wird vielleicht vergessen, vieles verpufft in einem Hype, einiges bleibt im aktiven künstlerisch-menschlichen Vokabular. Aber all diese neuen, hybriden Formen, die hier entstehen, lösen nicht unbedingt das Vorherige und Klassische ab, wie in einem Systemupdate. Es gibt auch nicht »das Konzert der Zukunft oder»die Institution der Zukunft«, sondern es werden viele Formen nebeneinander existieren, die der Komplexität der Inhalte und Umgebungen geschuldet sind. Wenn man sich etwas wünschen kann, dann bitte ein vielfältiges Musikschaffen für eine vielfältige Welt voller unterschiedlichster Kontexte. Und dass wir als Szene diesen Zusammenhang verstehen und kulturpolitisch auch durchsetzen können. Denn das Problem ist nach wie vor, dass ein Großteil der öffentlichen Förderungen noch immer auf eine Klassikwelt des Denkmalschutzes ausgerichtet ist. Ja, wir müssen ein paar »Klassiktempel« zur Pflege der Aufführungskultur des späten 19. Jahrhunderts haben. Aber, wir müssen vor allem das Konzert als lebendigen Ort des 21. Jahrhunderts neu erfinden. Wenn von einer »Krise der Klassik« die Rede ist, dann ist das nicht die Krise der Musik, sondern unsere Krise als Musikschaffende. Dazu müssen sich auch die Institutionen in all ihren Bereichen, ihrem Selbstverständnis, ihrem Verhältnis zum Publikum und der Musik selbst, neu erfinden können.

Wesentlich erscheint uns die beständige Suche nach der inneren Notwendigkeit der Arbeit. Und die Freude daran - denn nichts Großes wurde jemals ohne Enthusiasmus gemacht. Und dass immer wieder die Fragen ehrlich gelebt und gepflegt werden. Dann wächst man, oft unmerklich, in eine Art von Antwort hinein. Wir werden sehen, in welche Antworten wir noch hineinleben werden.

 

Autor: Steven Walter