Barocke Glitches: Über die neuen Wurzeln der Klassik.

Die meiste Zeit standen sich die Sphären der klassischen Musik und der Popmusik skeptisch gegenüber. Für eine neue Generation sind sie untrennbar verbunden. Ein optimistischer Blick auf eine schwierige Beziehung.

Der Stammbaum ist ein Trugschluss. Das wussten schon die Enzyklopädisten Diderot und D’Alembert: Wissen und Genealogie sind so nicht organisiert. Es gibt Querverbindungen, die sich nicht an die Hierarchien halten, Elemente, die nicht eindeutig einer Gruppe zugeordnet sind. Solche, die Gruppen verbinden, die im klassischen Modell einer Eiche, deren jeder Ast vom anderen geschieden ist, völlig verschieden sich entwickelt haben, anderen Ursprunges sind. Die Poststrukturalisten Deleuze und Guattari fanden ein anderes Bild aus der Biologie: Das Rhizom, das Wurzelgeflecht. Also ein System, das vielfach ineinander verflochten ist, das kein Zentrum hat, keine Hierarchieebenen, in dem jeder Punkt mit jedem verbunden ist. Natürlich geht die Biologie und die Organisation von Kultur nicht in eins. Aber das Bild ist ein starkes. In einer Welt, in der die Diskurse der Kunst und Kultur ständigen Paradigmenwechseln unterworfen sind, in der jeder Stil eine Szene hervorbringt, eine Blase, eine Weltsicht, eine Art des Verhaltens, ist die Vorstellung, dass A eindeutig zu B führt, nicht haltbar. Und darum: Natürlich ist es so, dass die Klassik – Musik, die mit analogem Instrumentarium arbeitet und in Tradition der europäischen Kunstmusik von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts steht – heute ihre Wurzeln in den Popularmusikstilen nach der Rock’n’Roll-Explosion Mitte des 20. Jahrhunderts findet.

Klingt absurd? Nun, nein: Es liegt auf der Hand. Und es könnte sich als produktiv erweisen. Dem Jazz beispielsweise hat es gerade den Hals gerettet: War das Genre vor einigen Jahren die exklusive Domäne älterer Männer mit weißem Pferdeschwanz und Hut, erfinden die Jahrgänge der in den Achtzigern Geborenen (und also in der Hochphase des HipHop und der elektronischen Musik in den Neunzigern Großgewordenen) seit ein paar Jahren das Genre neu. Versuchte sich Jazz lange eher unangenehm daran, Elemente angesagter Black-Music-Stile zu integrieren, machten es Künstler*innen wie z.B. Makaya MvCraven in den letzten Jahren umgekehrt: Sie fanden mit ihrem aus ihrer Sozialisation heraus intuitiven Wissen, wie HipHop-Tracks funktionieren, mit ihrem Wissen um Beats und Grooves, neue Zugänge dazu, was Jazz sein könnte.

Auch die Klassik und die Popmusik haben sich lange miteinander schwer getan. Sicher, die Grenzen waren einmal durchlässiger – Carl Maria von Weberns „Wir winden dir den Jungfernkranz“ aus dem „Freischütz“ von 1821 gilt als einer der der ersten literarisch bezeugten Ohrwürmer, Heinrich Heine stöhnte in seinen Briefen aus Berlin, er glaube „fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn.“ Die Pop-Bearbeitung des „Freischütz“ hingegen, „The Black Rider“ von Tom Waits, William Burroughs und Robert Wilson, 1990 uraufgeführt, ist ein Zeugnis der Minderwertigkeitskomplexe des Pop gegenüber der sozial wesentlich höher stehenden E-Musik.

Denn nichts anderes war es ja größtenteils, was Weiße Jungs, die sich den Schwarzen Rhythm’n’Blues aneigneten, dazu brachte, sich, kaum, dass sich der Staub der ersten Rock-Explosion gelegt hatte, an die Klassik anzudienen. Das „Concert for Group & Orchestra“ von Jon Lord und Ian Gillian erschien 1969 als gemeinsame Aufführung der Hardrock-Gruppe Deep Purple und dem Londoner Royal Philharmonic Orchestra. 1971 spielte das Prog-Trio Emerson, Lake & Palmer Modest Mussorgskys Programmmusik „Bilder einer Ausstellung“ neu ein, auf Hammond-Orgel und Moog-Synthesizer. Der ganze Prog-Rock war im Grunde ein Betteln von Männern aus besserem Hause, in ihrer Lust auf Rockmusik ernst genommen zu werden, ihren scheinbar selbstverständlichen Platz in einer Hochkultur einzunehmen. Die sich ihrerseits immer weiter einschloss um vergangene Musiktraditionen, nicht einmal die direkten Anschlüsse an Orchestermusik ernst zu nehmen vermochte, die John Cage oder Karlheinz Stockhausen aufboten, Neue Musik oder Minimalismus. „Close the border, close the gap“ war ein Slogan der frühen Pop-Denke. Die Brücken bauten sich aber nur in eine Richtung.

Und bauen sich heute weiter, wenn etwa Electro-DJs der ersten Stunde wie Carl Craig ihre Stücke mit klassischer Orchestrierung neu einspielen, mit ähnlich halbgaren Ergebnissen. Umgekehrt öffneten sich bald aber auch die Institutionen der Klassik in unangenehmer Weise dem kulturell immer dominanteren Pop. Acts wie Rondo Veneziano, Vanessa Mae oder David Garrett versuchten, Anschlüsse zu suchen und scheitern ästhetisch in einem Niemandsland jenseits jeder Szene. Die zahlreichen Versuche, Popbands in die Philharmonien zu holen, sind allenfalls in Hamburg geglückt.

Dennoch: Heute bietet sich zum ersten Mal die Chance, tatsächlich beide Welten zusammenzudenken. Denn wiederum ist heute eine Generation von jungen Menschen in der Position, der Klassik Impulse zu geben, die nicht zwangsläufig in ihrer Jugend einen klassiknahen Zugang zu Musik hatten. Menschen, für die Klassik nicht eine vom Pop geschiedene Sphäre ist, die eines anderen Habitus bedarf, sondern eine Musiktradition unter vielen.

Die Britin Emika, Jahrgang 1986, genoss eine klassische Ausbildung, arbeitete seit ihren Schulzeiten mit dem Laptop an elektronischer Musik, veröffentlichte auf dem Berghain-Label Ostgut Ton – und schuf 2017 mit „Melanfonie“ ihre erste Sinfonie für das große Orchester, in der sie es schaffte, Sounds des Techno für barocke Instrumentierung neu zu denken, so dass der Klangkörper des Orchesters Glitcheffekte erzeugen konnte, während Elemente der atonalen Musik wie der Romantik in das Klangbild einflossen. Überhaupt, die Elektronik: Hier ist das angesiedelt, was als „Neo-Klassik“ in den letzten Jahren wieder beinahe chartsfähig geworden ist, weitgehend, ohne peinlich oder anbiedernd zu sein: Künstler*innen wie Hauschka, Kelly Moran und Nils Frahm arbeiten ganz selbstverständlich mit Prepared Piano genauso wie mit Drum-Maschine und Synthie.

Und dann sind da wiederum auch die vielen jungen Talente, die eine klassische Ausbildung genossen haben und auch heute der Klassik verbunden sind, aber die dennoch genauso in Pop, HipHop oder Metal sozialisiert wurden. Zu deren musikalischer Muttersprache elektronische Klangelemente, Sprechgesang oder folkloristische Harmonien selbstverständlich genauso gehören wie Rameausche Kadenzen. Und die diese Einflüsse nicht aus ihrem Spiel heraushalten können, sondern, im Gegenteil, es für ihre Musik fruchtbar machen. Das ist die Generation derer, die heute PODIUM Esslingen prägen – und die die Wurzeln sein könnten einer neuen Klassik.

 

Autor: Steffen Greiner