Einladung zur Deutungs-freiheit

Bei den Fragen, wie die Kulturangebote der Zukunft aussehen könnten, wer die Besucher und Kulturschaffenden von morgen sind und wie sich gar zukünftige Überschneidungen zwischen Kulturnutzung, Kulturproduktion und Kulturgestaltung äußern, sind neue Beteiligungsformen und interaktive Musikwahrnehmung von zunehmender Bedeutung. 

Musik als soziale Praxis

Musik wird in einer Vielzahl von sozialen und interaktiven Situationen erfahren und erlebt. Die wesentliche, lebendige Schnittstelle zwischen Musik und Öffentlichkeit ist immer das Konzert. Innerhalb dieser Situationen bildet das Konzert einen Sonderfall, denn es gibt einen Rahmen vor, der der Aufführung und dem gemeinsamen Erleben von Musik dient und dabei die Anwesenden deutlich in Aufführende und Publikum trennt. Dabei steht das ästhetische Erleben im Konzert im Mittelpunkt: Wie wird Musik im Konzert erlebt – von den spielenden Musiker*innen, den Komponist*innen und den Mitgliedern des Publikums? Was sind die wesentlichen Bestandteile ästhetischer Erfahrung im Konzert? Dort wo Musik entsteht, gelingt ein Konzert. Das Konzert ist im weiteren Sinne das Medium der Musik und der Grund, warum es Musiker, Ensembles und Orchester gibt.

Das Konzert als kulturelle Praxis und künstlerische Kunstform hat sich in seiner frühen Entwicklung immer wieder den sich veränderten ästhetischen, sozialen und ökonomischen Bedürfnissen anpassen können. Doch seit dem 19. Jahrhundert haben eine Normierung und Ritualisierung des Konzertformats eine Weiterentwicklung größtenteils verhindert. Welche Transformationen sind nun notwendig, um diese Kunstform ins 21. Jahrhundert zu übertragen?

Einladung zur Deutungsfreiheit

Bei den Fragen, wie die Kulturangebote der Zukunft aussehen könnten, wer die Besucher und Kulturschaffenden von morgen sind und wie sich gar zukünftige Überschneidungen zwischen Kulturnutzung, Kulturproduktion und Kulturgestaltung äußern, sind neue Beteiligungsformen und interaktive Musikwahrnehmung von zunehmender Bedeutung. Mit der neuen Plattform betterconcerts.org, ermöglicht durch die Aventis Foundation im Rahmen ihrer Kultur-Initiative experimente#digital, wird nun eine neue und dringend benötigte internationale Plattform zur Diskussion über die Zukunft der Klassischen Musik und des Konzerts etabliert.

Die zentrale Bestrebung der Plattform ist die Ermöglichung neuer Rollenverteilungen zwischen Akteur*innen und Publikum, Bühne und Zuschauerraum, Zentrum und Peripherie, Kunst und Welt. Vermeintlich gegebene und unveränderliche Rahmenbedingungen, die die öffentliche Auffassung vom Wesen eines Konzertes bestimmen, werden als variabel interpretiert. Die Plattform formuliert mit diesem Ansatz ein offenes Angebot, das Konzert neu zu denken, auf neuartige Weise über Konzerterlebnisse zu sprechen, entdeckungswürdige Präsentationsformate zu kreieren und Klassik in einen zeitgemäßen Kontext zu setzen.

Im Mittelpunkt steht dabei die bislang zu wenig ernst genommene Analyse der sich rasant wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fü̈r Produktion und Rezeption. Klar ist schon jetzt, dass die ewige Wiederholung des immer gleichen mit Hinweis auf die wichtige kulturelle Tradition keine ausreichende Grundlage für einen zukünftigen gesellschaftlichen Konsens über die selbstverständliche Finanzierung unserer Musiklandschaft bilden. Die Frage nach der Relevanz wird immer bohrender.

Suchen, Finden, Inspirieren – Eine Vielzahl bereits existierender innovativer experimenteller Konzertprojekte wird nun durch betterconcerts.org sichtbar gemacht, gebündelt und dokumentiert. In dem Zusammenhang werden Konzerte auf ihre gestalterischen Mittel untersucht sowie analytisch, plastisch und sinnlich präsentiert. Anhand schon vorhandener Ansätze soll gemeinsam die Erkundung der Verwirklichungsmöglichkeiten und die Erforschung der Parameter vorangetrieben werden, die bei der Kontextualisierung eines Konzertes bewusst gestaltet werden können.

Warum betterconcerts.org?

Was bedeutet Better Concerts? Warum braucht es bessere Konzerte? Was heißt eigentlich besser und wie lässt sich das bewerten? Die Plattform betterconcerts.org vereint alle Akteure, die im großen und weit gedachten Feld der „Kunstmusik“ schlicht und ergreifend nach besseren Konzerten streben. Besser meint hier intensiver, auratischer, erlebnisnäher, bedeutsamer, mutiger, verspielter, kontroverser, sinnhaltiger und gesellschaftlich anschlussfähiger – all dies stets mit höchsten künstlerischen Qualitätsansprüchen. Besser meint ein anderes, tieferes Nachdenken über das eigene künstlerische Schaffen. Besser meint eine lebendige Vielfalt, eine Bandbreite an Ansätzen und Haltungen.

Im Sinne einer modernen Kunstform und lebendigen Zeitkunst steht dabei das Potential des Konzerts als offener dynamischer Erlebnisraum im Mittelpunkt, der zur Beteiligung und Interaktion einlädt. Die hier gezeigten Projekte verhandeln angstfrei, experimentierfreudig und mit Toleranz für das Scheitern die Frage, was das Konzert als künstlerische und relevante Plattform heute bedeutet. Dabei wird das Konzert als das künstlerische Musikprodukt schlechthin betrachtet, das entsprechend künstlerisch durch alle Parameter zu gestalten ist (vgl. Konzertdesign). Der Interpretationsbegriff wird um die kuratorischen und gestalterischen Fragen, die sich aus dieser Definition des Konzerts ergeben erweitert.

Langfristig soll die Plattform sich zu einem lebendigen internationalen Ideenmarkt für und von Musikschaffenden, die sich gemeinsam für eine zeitgemäße Konzertkultur stark machen und die Konzertpraxis nachhaltig mit immer neuen Impulsen entwickeln

 

Autor: Julian Rieken