Das Konzert: Ein kurzer Exkurs

Ob Bach, Beethoven oder Brahms, – sie alle waren zu Lebzeiten zeitgenössische Komponisten, die mit der größten Selbstverständlichkeit von ihren Zeitgenossen aufgeführt, rezipiert und diskutiert wurden. Das, was heute als Klassische Musik bekannt ist, war einst die neuste und populäre Musik. 

Viele empfinden die Musik von Mozart und Beethoven als alt und gar altertümlich. Wenn man bedenkt, dass diese Musik mittlerweile über 200 Jahre alt ist, ist das gar nicht so abwegig. Doch zu der Zeit, als die großen Sinfonien das erste Mal in den Musikhallen Europas ertönten, empfanden die Massen sie als die neuesten und größten Hits.

Statt sich wie heute fast ausschließlich auf einen mittlerweile über 200 Jahre alten Kanon an Werken zu beschränken, war Aktualität ein unverzichtbarer Bestandteil der Rezeptionskultur. Während heutzutage ein typisches Konzertprogramm eines Orchesters aus drei Werken großer verstorbener Komponisten besteht, beinhalteten Sammelprogramme um 1780 zwischen acht bis fünfzehn Stücke von größtenteils zeitgenössischen Komponisten. Das Programm war meist eine bunte Mischung aus bekannten Opernauszügen, Ouvertüren, Instrumentensoli, Sinfonien, etc. Es wurde nicht zwischen Ernst und Interesse an Unterhaltung beim Publikum unterschieden, stattdessen kamen Menschen mit einer Vielzahl von musikalischen Bedürfnissen und Geschmäckern zusammen, um das selbe Programm zu hören.

In diesem Kontext war das Konzert noch im 18. Jahrhundert ein soziales Forum, ein Ort des Dialogs, ein kollegiales Unterfangen. Intellektuelle Disputationen über Musikgeschmack und inhaltliche musikalische Diskurse waren integrale Teile des sozialen Systems des Bildungsbürgertums.

Der Zuhörer, dem also spontanes Agieren verwehrt war und der mithin in die Rolle des passiv regungslos sitzenden Konsumenten gedrängt wurde, fand sich nicht ohne Widerstand und nur schrittweise in diese neue Verhaltensnormierung hinein; wollte man doch Kontakte knüpfen und verstand das organisierte bürgerliche Konzert als einen dazu dienlichen festlichen Rahmen.

Weber, William (2008): The Great Transformation of Musical Taste: Concert Programming from Haydn to Brahms

Im Jahr 1804 präsentierte der Wiener Geiger Ignaz Schuppanzigh das erste bekannte öffentliche Konzert eines Streichquartetts. Solche reinen Streichkonzerte brachen mit sämtlich bestehenden Traditionen und Konventionen, indem sie sich komplett von der populären Vokalmusik distanzierten und ihr Publikum als kulturelle Elite abseits der allgemeinen Öffentlichkeit definierten. Infolgedessen entwickelten sich klassische Konzerte immer mehr zu reinen Programmen instrumentaler Klassiker. Im Zuge dieser Entwicklungen wurde eine vielfältige Programmgestaltung – wie sie noch Ende des 18. Jahrhunderts üblich war – in einer öffentlich geführten Diskussion hinterfragt. Die Vielzahl an Arten von Musik in Konzertprogrammen – von Tanzmusik, sentimentalen Balladen, Opernmelodien-Medleys bis hin zu Variationen populärer Lieder – wurden als unterhaltungsorientierte Geschmacksverirrungen kritisiert. Als Folge entstand eine Bewegung mit einer idealistischen Vision für Geschmack und Programmierung nach „höheren" Prinzipien im Gegenzug zur „irdischen Salon-Musik“.

Das Repertoire wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts auf wenige „Meisterwerke“ reduziert und die Programmabfolge auf Ouvertüre, Konzert, Pause, Sinfonie normiert. Diese „Kulmination des bürgerlichen Konzertes” befriedigte auch das „Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe.“ (Tröndle 2011)

E- und U-Musik

Der alte Rahmen des traditionellen Konzertlebens konnte diesen Transformationen nicht standhalten und das Musikleben begann in verschiedene Geschmacks- und Repertoire-Klassifikationen zu zerbrechen. Um 1850 etablierte sich die Dichotomie zwischen ernster und unterhaltender Musik und prägte fortan die Programmgestaltung. Das Auseinanderbrechen des traditionellen Musiklebens fand im Kontext tiefer politischer und sozialer Umbrüche zwischen 1789 und 1848 statt. Die Französische Revolution und Napoleons Neuordnung Europas eröffnet neue Möglichkeiten. Mit den politischen Unruhen erblühten zeitgleich neue utopische Denkströme über ideale Gemeinschaften und Reformbewegungen der kulturellen Ordnung.

Zwischen 1800 und 1850 durchlebte das europäische Musikleben einen grundlegenden Wandel der Werte, Praktiken, Repertoires und Institutionen. Die zunehmende Ausdifferenzierung des Programms hat auch zu einer Intellektualisierung der Rezeption und Rezension geführt.

Das Aufkommen der philosophischen Ästhetik Anfang des 19. Jahrhunderts führte auch zusätzlich zu einer Veränderung der musikalischen Ästhetik. Philosophische Idealisten wie Kant, Schiller, Herder und Schelling in Deutschland führten die ästhetische Wirkung eines Kunstwerks zurück auf dessen Fähigkeit, ein höheres Ideal zu reflektieren. Dabei wurde das Schöne, das Erhabene und die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solches (Vgl. Baumgarten) als Verweis auf ein metaphysisches Reich gedeutet. E.T. A. Hoffman beschrieb dieses Ideal als „das wundervolle Reich des Unendlichen.” 

The division of culture by the spatial metaphors of high and low may be regrettable but has informed cultural criticism for too long simply to be ignored. For its proponents, the origins of this division lie in religious ideals of a spiritual ascent from the earthly to the heavenly.

Johnson, Julian (2011): Who needs Classical Music? Cultural Choice and Musical Value

Diese Vorstellung einer höheren Ordnung musikalischer Erfahrung führte zu einer neuen Hierarchisierung von musikalischen Geschmäckern und Genres. Klassische Musik wurde nicht mehr als reine Unterhaltung betrachtet sondern zunehmend als eine Quelle der Wahrheitsfindung. Vision war es, das Konzerterlebnis aus dem Alltag zu heben, um eine „Welt für sich selbst” zu schaffen. Das Publikum – eine „imaginär-reale Gemeinschaft freier, gleicher und brüderlicher Menschen“ – sollte einer autonomen, von jeglichen Realitätsbezügen befreiten ‚reinen’ Musik lauschen (Heister 1983).

Das Ideal, der mit der klassischen Musik in Verbindung gebrachten intellektuellen Entwicklung des Individuums im Gegensatz zu beiläufigem und unterhaltsorientiertem Musikgenuss, bildete die Grundlage für eine „neue, bürgerliche ‚Sakralisierung’ von Musik, Komponisten und [...] Ort“ im Konzertwesen des 19. Jahrhunderts. Nirgends wurde dabei die Musik „mit so heiligen Ernst aufgefaßt und gepflegt wie in Deutschland, und so kam es auch hier zu der großartigen Erhebung der Gattung des Konzertsaals in den Bereich echter Sakralität“ (Habel 1967).

Regungslos verfolgt das Publikum die Darbietungen; selbst das Husten und Räuspern wird auf die Pausen verschoben. Am Gefühl der Peinlichkeit, das aufkommt, wenn jemand klatscht, obwohl das Stück noch nicht zu Ende ist, läßt die rigorose soziale Normierung der Situation ermessen: Kompetenz, Konzentration, Schweigen sind verbindlich für alle. Gemeinsam praktiziert man Kontemplation als Erlebnismuster des Hochkulturschemas.

Martin Tröndle, Das Konzert

Die mit der idealistisch motivierten Konzertsaalreform einhergehende Aufführungskultur und kontemplative Versenkung in die Musik erforderte „die absolute Konzentration auf den höchsten Kunstinhalt, die Verdrängung des Äußerlichen und der Verlust direkter Bezüge zur gesellschaftlichen Realität." (Tröndle 2011) Weiterhin gefordert wurde ein „angemessenes Verhalten, die Konzentration auf den ästhetischen Genuss und feierliche Kleidung.“ (Heister 1983) Die Rituale, die immer noch in den Konzertsälen vorherrschen und die klassische Musikszene prägen, sind Relikte dieser Zeit.

 

Autor: Julian Rieken