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Aufbruch in die Erlebniskultur?

In Hinblick auf ein zunehmend multi-optionales und erlebnisorientiertes Kultursystem wird die Entscheidung eines potentiellen Konzertbesuchers heute nicht mehr nur zwischen Konzert, Oper oder Theater getroffen: Kino, Club sowie „der Italiener um die Ecke“ konkurrieren mit dem Abendkonzert. 

Der moderne Kulturnutzer – auch als Kulturflaneur beschrieben – nimmt das Angebot der Hochkultur als eines von vielen wahr. Er „legt mit wechselnden Präferenzen unabhängig von Sparten oder dem Status des Anbieters nach Lust und Laune mal ein bildungs-, mal ein erlebnis- und mal ein vergnügungsorientiertes Kulturverhalten an den Tag (Andreas J. Wiesand).“ Diese Entwicklung macht eine Bindung sehr viel schwieriger, birgt jedoch auch die Chance, Noch-Nicht-Besucher bei anderen kulturellen Kontaktpunkten abholen zu können. Der Wunsch nach flexiblen Kulturangeboten hinsichtlich Format, Anfangszeit und Preisgestaltung ist auch als Ausdruck des sich ändernden Kulturlebens zu verstehen. Diese Entwicklung lässt sich nicht einfach als Generationsproblem abtun, die Entwicklung neuer Angebote ist gefragt, um diesen veränderten Bedürfnissen gerecht zu werden. Durch Veränderungen im Wertekanon hat sich sowohl der Kulturbegriff als auch das Publikumsverhalten verändert. Das Kulturleben hat sich pluralisiert, eine Konzertveranstaltung hat demzufolge eine sehr viel größere Konkurrenz als früher. Das erfordert eine bewusste Verringerung der geographischen und der sozialen Distanz; der Besuch eines klassischen Konzertes sollte ähnlich barrierefrei und milieukompatibel sein wie ein Kinobesuch.

Das hat einerseits die Bandbreite der Möglichkeiten kolossal erhöht, aber auch die Bindungskraft zu bestimmten Veranstaltern oder Musikern geschwächt. Dieses Verhältnis von Bindung und Freiheit ist ein Phänomen unserer Zeit und ist auch in anderen Bereichen evident. 

Auch sind öffentliche Kulturinstitutionen zunehmend den Mechanismen des Erlebnismarktes – dem Zusammentreffen von Erlebnisnachfrage und Erlebnisangeboten – ausgesetzt. Die Wandlung von der Außen- zur Innenorientierung führt auch in der Kulturbranche zu einer stärkeren Erlebnisorientierung. Auch die klassische Musik wird erst durch das Konstrukt um sie herum, durch den Musikbetrieb, durch Vermarktungsstrategien, durch Aufmerksamkeitsakkumulation zur öffentlich wahrgenommenen Musik. Das Ausweiten und Entstehen von neuen kulturellen Angeboten führt gleichzeitig zu einer Aufsplitterung des Kulturpublikums. Dabei wird die soziale Zugehörigkeit des Kulturnutzers immer mehr durch dessen Präferenzen und Aversionen definiert, die sich wiederum auf dessen Handlungsweisen und Handlungsmotiven niederschlagen. Dazu zählt auch die Vorliebe oder Abneigung für bestimmte Kulturangebote.

Traditionelle Gesellschaftsschichten werden durchlässig, an die Stelle der herkömmlichen Zuordnungskategorien wie Herkunft und Bildung treten Fragen des Lebensstils und der Freizeitgestaltung, die individuelle und vor allem die intersubjektive Bedeutung fast aller Ereignisse wird nicht am tatsächlichen Gebrauchs- oder Informations-, sondern am Erlebniswert gemessen und umwälzende technische Entwicklungen ermöglichen eine komplexe Vernetzung sämtlicher Lebensbereiche untereinander.

Kathrein Weinhold

Auch das Rezeptionsbewusstsein und die Erwartungen des Publikums an Virtuosität, Klangqualität und Perfektion haben sich im Zuge technischer Entwicklungen gewandelt. Nicht nur ist aus einer Fülle an kulturellen Konkurrenzangeboten auszuwählen, es stellt sich dem potentiellen Zuhörer zudem auch die Frage, warum er überhaupt ins Konzert gehen sollte, wenn das Aufgeführte zu Hause in einer ausgefeilten Interpretation klanglich perfekt zu hören ist und die Attraktivität des Konzerts als soziales Forum zunehmend an Bedeutung verliert. Das Internet als weltweit vernetzter alternativer Kulturraum hat sich dabei zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten für traditionelle Kulturorte entwickelt. In dem es Produzent und Konsument vereint, hat es auch zu grundlegenden Veränderungen im Umgang mit Kultur geführt.

Der allgemeine Konsens ist, dass das klassische Musikereignis insgesamt als ästhetische wie als soziale Institution an Relevanz verloren hat. Der Kulturwandel, die Digitalisierung, die erhöhte Freizeitkonkurrenz und die zunehmende erlebnisorientierte Gesellschaft zwingen auch Orchester und Konzerthäuser zum strategischen Handeln. Entscheidend für die Zukunft der klassischen Musik wird dabei sein, wie sich der klassische Konzertbetrieb innerhalb der zunehmend multikulturell gewordenen Gesellschaft verhält.

 

Autor: Julian Rieken